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Mittwoch, 13. Juni 2012

"Als das Schweigen gebrochen und ein Erbe auferlegt wurde" von Katharina Müller

 
Im Rahmen der Internationalen Begegnung 2012 verfasste Katharina Müller einen Artikel unter dem Titel "Als das Schweigen gebrochen und ein Erbe auferlegt wurde". Im Folgenden beschreibt die Autorin, warum sie ihren Beitrag dem Schicksal von Henriette Kretz gewidmet hat:

"Henriette Kretz, diese starke, gebildete und selbstbewusste Frau, kennenzulernen und mit ihr fast zwei Wochen verbringen zu dürfen, war eine große Ehre für mich. Es macht einen Unterschied, einigen Stunden dem Vortrag einer Shoah-Überlebenden  zuzuhören oder die Möglichkeit zu haben, diese Person über einen längeren Zeitraum näher kennenzulernen. Henriette Kretz hat ein beeindruckendes Leben, in dessen Verlauf ihr viel Leid widerfahren ist - doch auch viel Gutes: Sie ist Ehefrau, Mutter und Großmutter. Außerdem ist sie mit ihrem Enthusiasmus, ihrer Wissbegier und ihrer Lebensfreude ein Vorbild für nachfolgende Generationen. Sie macht deutlich, wie wichtig es ist, die Shoah zu thematisieren, Zivilcourage zu zeigen und sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen."

Der Artikel  "Als das Schweigen gebrochen und ein Erbe auferlegt wurde" ist abrufbar unter

Henriette Kretz überlebte die Judenverfolgung und –vernichtung in Polen. Seit Jahren kämpft sie als Zeitzeugin unermüdlich für die Zukunft der Erinnerung.

Beginnt Henriette Kretz ihre Lebensgeschichte zu erzählen, wird es still um sie herum. Gebannt lauschen die Zuhörer ihrer ruhigen, in der Rede geübten Stimme.
„Ich erinnere mich daran, mit vier Jahren eine schöne und glückliche Kindheit gehabt zu haben. Ich hatte alles, was ein Kind braucht. Es war wirklich eine schöne Zeit – bis ich eines Tages das Wort ,Krieg‘ hörte. Es war ein ganz fremdes Wort für mich. Ich sah, dass alle Menschen sehr aufgeregt waren, aber ich wusste nicht warum. Doch dann sah ich meinen Vater mit einem Lastwagen voll schwer verwundeter polnischer Soldaten. Sie schrien vor Schmerz. Und da habe ich begriffen, dass Krieg etwas sehr Schreckliches ist.“
So beschreibt die heute 77-jährige in Antwerpen lebende Polin ihre Erinnerungen an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Henriette Kretz ist ein Kind des Holocaust. Geboren im damals polnischen Stanisławów (dem heutigen Iwano-Frankiwsk in der Ukraine), war sie noch nicht ganz fünf Jahre alt, als der Krieg ihr Leben für immer verändern sollte. Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 floh Henriette mit ihren Eltern von einem kleinen Städtchen in der Nähe von Kielce, wo die Familie lebte, nach Lemberg. Nicht nur die Angst vor dem Krieg trieb die kleine Familie in den Osten Polens. Es war vielmehr die jüdische Abstammung, die ihr Leben bedrohte.
Beinahe zeitgleich mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Westpolen, annektierte die Sowjetunion den östlichen Teil Polens. Als Henriette und ihre Eltern in Lemberg eintrafen, herrschten dort bereits die Russen. Von Krieg war hier jedoch nichts zu spüren. Henriette besuchte einen russischen Kindergarten und lernte zum ersten Mal ihre zahlreichen Onkel und Tanten kennen, die in Lemberg lebten. Henriettes Vater, der von Beruf Arzt war, bekam eine Stelle als Direktor eines Sanatoriums für tuberkulosekranke Kinder im benachbarten Sambor. Das Leben der Familie lief in geordneten Bahnen weiter – bis im Juni 1941 die Sowjetunion von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde. Der Einmarsch der Nationalsozialisten in Lemberg änderte alles. Die russischen Soldaten flohen. Schutzlos zurück blieben Henriette und ihre Familie. Sie flohen weiter nach Sambor. Doch auch dort marschierten bald die Deutschen ein. Die inzwischen sechsjährige Henriette verstand die Aufregung nicht.
„Ich wollte die Deutschen unbedingt sehen. Ich sah, dass meine Eltern Angst vor ihnen hatten. Ich wollte wissen, wie diese Monster aussehen.“
Mit Erstaunen reagierte das Kind, als es die deutschen Soldaten zum ersten Mal sah.
„Ich dachte mir: Was haben meine Eltern? Das sind doch schöne junge Männer in schönen Uniformen. – Doch dann begannen die Maßnahmen gegen die Juden.“
So wurde es Henriette verboten, die Schule zu besuchen. Weil sie eine Jüdin war. Das kleine Mädchen verstand die Welt nicht mehr. „Ich wusste ja noch nicht einmal, was eine Jüdin ist...“ Ihre Eltern wurden gezwungen, eine Armbinde mit dem Davidstern zu tragen. Die einschneidendste Maßnahme war die Auflage, ins jüdische Viertel umziehen zu müssen. Zum ersten Mal traf Henriette dort auf jüdisch-orthodoxe Kinder. „Sie sahen komisch aus und sprachen eine Sprache, die ich nicht kannte: Jiddisch.“
Die Kinder waren Henriette fremd. Sie hatte das Gefühl, nichts mit ihnen gemeinsam zu haben. Umso größer war der Schock für sie, als die ukrainischen und russischen Kinder, mit denen sie in den letzten anderthalb Jahren gespielt hatte, plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten. Als Jüdin beschimpft, wurde Henriette ausgestoßen. Und wieder wusste sie nicht warum. Sie verstand, dass sie eine Jüdin war. Doch sie verstand nicht, was sie als Jüdin von den anderen Kindern unterschied, warum sie weniger Rechte hatte.
Eines Morgens standen Lastwagen im jüdischen Viertel, die viele jüdische Familien abtransportierten. Henriette musste miterleben, wie ihre Freundin Vera mitgenommen wurde. Und sie wusste, sie würde sie niemals wiedersehen.
Henriettes Vater, der als Arzt viele Menschen kannte, gelang es immer wieder, die Familie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Mal schuldete ihm jemand noch einen Gefallen, mal musste die Hilfe durch Bestechung erkauft werden. So konnte die Familie auch der Deportation ins Vernichtungslager Belzec entgehen.
Doch Henriettes Strapazen nahmen kein Ende. Nachdem sie einige Zeit später, von ihren Eltern getrennt, ins Gefängnis gesperrt wurde, durchlitt sie Todesängste. Aus Furcht davor, von der SS hingerichtet zu werden, verweigerte sie im Gefängnis die Nahrung. Lieber wollte sie verhungern als erschossen zu werden.
Abermals gelang es dem noch immer einflussreichen Vater, sein Kind zu retten. Eine weitere Bestechung und Henriette konnte zu ihren Eltern zurückkehren. Zurück ins jüdische Viertel, das inzwischen zum Ghetto Sambor geworden war. Dort erfuhr Henriette, was es hieß zu hungern und sich wie ein Untermensch zu fühlen. Des Lebens nicht wert. Sie verspürte Scham und Schande wegen ihrer jüdischen Abstammung.
Als im Sommer 1943 das Ghetto kurz vor der Auflösung stand und immer mehr Juden verschwanden, gelang es dem Vater ein weiteres Mal seine Familie zu schützen. Ein ukrainischer Feuerwehrmann und seine Frau versteckten Henriette und ihre Eltern im Kohlenkeller ihres Hauses. Über Monate lebte die Familie in völliger Dunkelheit und Enge. Die Eltern erzählten ihrer Tochter Geschichten, um sie von der grausamen Wirklichkeit abzulenken. Im Frühjahr konnte die Familie vom Keller auf den Dachboden ziehen. „Es war für mich wie im Paradies. Da war Licht. Und Platz.“
Die Freude währte nicht lange. Das Versteck der Familie Kretz wurde verraten. Soldaten nahmen sie fest und führten sie ab. Um seiner Tochter das Leben zu retten, stürzte sich der Vater auf einen der Soldaten und befahl Henriette zu laufen. Sie tat es. Sie rannte und rannte – bis sie hinter sich Schüsse hörte. „Und da wusste ich: Ich habe keine Eltern mehr. Sie hatten mich bis zum letzten Moment beschützt.“ Henriette lief in Todesangst weiter. Sie war allein auf der Welt. Es gab niemanden, zu dem sie gehen konnte. Niemanden, dem sie trauen konnte. Jeder Mensch war eine potentielle Gefahr für sie. „Ich fühlte mich wie der einsamste Mensch auf Erden.“
„Es gibt ein Gefühl, das viele Kinder des Holocaust hatten: Das Gefühl, nur zu träumen, einen Alptraum zu träumen. Und wenn wir erwachen, wäre alles wieder so wie früher.“
Selbst über seinen Tod hinaus schien der Vater Henriette zu leiten und zu beschützen. Ihr fiel ein, dass er sich mit einer seiner früheren Patientinnen angefreundet hatte. Einer Nonne namens Schwester Selina, die das Waisenhaus in Sambor leitete. Unter Lebensgefahr erreichte Henriette das Waisenhaus und wurde von Schwester Selina aufgenommen. „Kind, du bist hier in Sicherheit.“ Unter mehr als hundert anderen Waisenkindern versteckte Schwester Selina elf jüdische und drei Zigeunerkinder. „Sie riskierte ihr eigenes Leben, um uns zu schützen.“
Dank Schwester Selina überlebte Henriette Kretz den Holocaust.
Nach dem Krieg fand sie das einzige noch lebende Mitglied ihrer Familie wieder: ihren Onkel Heinrich. Alle anderen waren ermordet worden. Zusammen mit ihm reiste sie nach Antwerpen. Sie schlossen sich der dortigen jüdischen Gemeinde an. Bis 1956 verbrachte Henriette ihr Leben in Antwerpen, danach lebte sie dreizehn Jahre in Israel, wo sie ihren Mann kennenlernte und als Lehrerin tätig war. 1969 kehrte sie nach Antwerpen zurück, um für ihren in die Jahre gekommenen Onkel zu sorgen.
Erst vor ca. fünfzehn Jahren begann Henriette Kretz damit, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen. Noch einige Jahre zuvor wäre das undenkbar gewesen. In Deutschland war das Thema Holocaust jahrzehntelang ein Tabuthema. Seit zwölf Jahren arbeitet die engagierte Rentnerin mit dem Maximilian-Kolbe-Werk in Freiburg zusammen. Im Januar und März 2012 nahm sie zum dritten Mal an der vom MKW organisierten Internationalen Begegnung teil. In diesem Jahr standen Auschwitz und Dachau als Tagungsorte auf dem Programm. Und im Unterschied zu den vergangenen Jahren hatte das Maximilian-Kolbe-Werk erstmals zwanzig junge Journalisten aus Deutschland, Rumänien, Polen, Belarus und der Ukraine als Teilnehmer eingeladen.
Henriette Kretz ist als eine der Zeitzeugen dabei. Aber sie ist nicht nur ins polnische Oświęcim (Deutschen besser als Auschwitz bekannt) gekommen, um ihre Lebens- und Leidensgeschichte zu erzählen. Sie hat auch ein großes Interesse daran, ihre Zuhörer besser kennenzulernen. So ist eine ihrer ersten Fragen an die jungen Journalisten, warum sie überhaupt hier, in Auschwitz, seien. Wurden sie von ihren Redaktionen entsandt oder kamen sie aus freien Stücken und mit aufrichtigem Interesse an der Vergangenheit an diesen Ort?
Henriette Kretz möchte wissen, was die jungen Menschen dazu bewogen hat, an der Internationalen Begegnung 2012, die dieses Jahr den Titel „Erinnern und Gedenken im Zeitalter des Web 2.0“ trägt,  teilzunehmen. Sie möchte etwas über die Herkunft der 20- bis 30-Jährigen erfahren, etwas über ihre Ambitionen und Erwartungen. Oft genug spricht sie mit anonymen Schulklassen. Der Austausch mit den jungen Journalisten soll auf einer anderen Ebene stattfinden.
Wann immer Henriette Kretz vor Publikum steht, spricht sie nicht nur für sich, sondern für die vielen Tausenden, die nicht mehr sprechen können. Für diejenigen, die keine Stimme mehr haben bzw. nie hatten. So erinnert sie etwa an die unbekannten Opfer, die direkt in die Gaskammern geschickt wurden. Ohne Namen. Ohne Registrierung und Vergabe einer Nummer.
Henriette geht es nicht darum, Schuldzuweisungen auszusprechen. Sie möchte auch nicht als zu beklagendes Opfer angesehen werden. Ihre Geschichte sei nur eine von vielen Tausenden. Sie habe Glück gehabt. Nur deswegen sei sie noch am Leben. Aus keinem anderen Grund, wie sie selbst sagt. Sie sei keine Heldin. Doch aus der Tatsache, die Schreckensherrschaft der Nazis überlebt zu haben, leitete Henriette ihre Verantwortung ab. Jeden einzelnen ihrer Zuhörer möchte sie ermahnen und auffordern: „Schaut hin! Seid aufmerksam. Lasst nicht zu, dass so etwas noch einmal passiert! Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, die Zukunft schon.“
Darum spricht Henriette Kretz mit ihrem Auditorium nicht nur über die Vergangenheit. Sie weist auch explizit auf bestehende Probleme in unserer heutigen Gesellschaft hin: den Rassismus und die wieder verstärkten antisemitischen Tendenzen. Mit Rassismus und Ausgrenzung kennt die polnische  Jüdin sich aus. Sie musste sie am eigenen Leib erfahren. 
Henriette Kretz hat ihr Leben dem Kampf für die Erinnerung gewidmet. Es ist ein  Kampf wider das (Ver)Schweigen und Vergessen. Seit Jahren reist sie unermüdlich durch niederländische, deutsche und polnische Städte, geleitet von dem Wunsch, vor allem junge Menschen an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Es ist ihr Auftrag, ihre Pflicht. Die jungen Menschen sollen für die Themen Holocaust und Extremismus sensibilisiert werden. Es geht dabei nicht nur ums Erinnern, sondern auch um die Verbreitung und die Zukunft der Erinnerung.
Doch wer wird die Geschichte der Überlebenden erzählen, wenn sie nicht mehr da sind, um Zeugnis abzulegen? Wer wird an die Verbrechen der Nazis und das millionenfache Leid der Opfer erinnern?
Fragt man Henriette Kretz, wie es mit der Erinnerungsarbeit weitergehen soll, wenn es in naher Zukunft keine Überlebenden des Holocaust mehr geben wird, so ist ihre Antwort eindeutig: „Dann müssen Sie unsere Geschichten weitererzählen. Das ist nun Ihre Aufgabe.“
Gemeint sind die jungen Journalisten, die in Auschwitz und Dachau aufmerksam den Worten der Zeitzeugen lauschten.
Was die deutschen Teilnehmer der Internationalen Begegnung angelangt, sind Henriette Kretz und die anderen in Auschwitz und Dachau anwesenden Zeitzeugen sich einig:
„Sie haben keine Schuld, aber Sie haben eine Aufgabe, eine Verantwortung für die Zukunft. Uns ist klar, dass Sie nicht die Welt verändern können. Aber Sie können Einfluss auf Ihr soziales Umfeld nehmen.“
Henriette Kretz hat uns, der Urenkelgeneration, ein Erbe auferlegt: „Tragt unsere Geschichten weiter – auf dass die Erinnerung nie erlischt.“
Es ist ein Erbe, das mit einer großen Verantwortung verbunden ist. Es ist unsere Pflicht, aktiv an die Gräuel des Nationalsozialismus zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Wir können das Vergangene nicht ungeschehen machen, doch wir können zu guten Menschen werden, die dafür Sorge tragen, dass solche Verbrechen niemals wieder geschehen.

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