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Donnerstag, 14. Februar 2013

„Wir müssen uns gemeinsam erinnern“ von Lara Eckstein



Wir freuen uns sehr, dass junge Journalist/-innen, die an Projekten des Maximilian-Kolbe-Werks teilgenommen haben, das Thema des Erinnern und Gedenkens weiterhin in ihre journalistische Arbeit miteinbeziehen. So erschien am 30. Januar 2013 in den Kieler Nachrichten ein Artikel von Lara Eckstein aus Dortmund unter dem Titel „Wir müssen uns gemeinsam erinnern“. Entstanden ist er nach ihrer Fahrt in die ukrainische Hauptstadt Kiew, wo sie an einer Jugendbegegnung des Deutschen Bundestags teilgenommen hatte.


 „Wir müssen uns gemeinsam erinnern“

Die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus ist eine Tradition in der deutschen Erinnerungskultur. Heute wird Inge Deutschkron im Bundestag berichten, wie sie als Jüdin in Berlin überlebt hat. Die meisten Toten gab es in Osteuropa, in Ländern wie der Ukraine. Eine Gruppe Jugendlicher aus ganz Europa besuchte jetzt, unterstützt mit Mitteln des Bundestags, die Stadt Kiew. Eine erschütternde Zeitreise.
Babyn Jar am Stadtrand von Kiew ist heute ein friedlicher Ort: Rasen und Bäume liegen unter einer dichten Schneedecke, Kinder rodeln auf Schlitten die Hügel hinunter. Unvorstellbar, was der Fremdenführer der Gruppe Jugendlicher erzählt, die er über das Gelände führt: dass am 29. und 30. September 1941 ein Sonderkommando der Nazis hier die Juden aus der eroberten Stadt zusammengetrieben hat. „Männer, Frauen und Kinder: Alle haben sie erschossen.“ Mehr als 33 000 Menschen innerhalb von zwei Tagen. Babyn Jar ist einer der größten Friedhöfe Europas und das Symbol des Holocausts in der Ukraine. Unter den 80 Teilnehmern der Jugendbegegnung sind viele Schüler und Studenten aus Deutschland. „Es waren Deutsche, die hier gemordet haben“, sagt Max Jacob. „Deshalb ist es wichtig, dass wir uns damit beschäftigen.“ In seiner Heimatstadt Hamburg hat der 17 Jährige eine Gedenkstätte in der HafenCity mit entworfen. Der ehemalige Deportationsplatz ist ein Erinnerungsort vor der eigenen Haustür. Die Massenerschießungen in der Ukraine dagegen scheinen weit weg – und doch ist die Auseinandersetzung mit ihnen unverzichtbar, um das Ausmaß des Schreckens zu verstehen, den die Nazis über ganz Europa gebracht haben. Wassili Michailowski erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er nach Babyn Jar ging. Die Nazis hatten die Anweisung gegeben, alle Juden der Stadt Kiew hätten sich am 29. September 1941dort einzufinden. Wer nicht gehorche, würde erschossen. „Meine Mutter war gestorben, mein Vater in Kriegsgefangenschaft“, erzählt Michailowski den Jugendlichen. Er selbst war noch ein kleines Kind, gerade vier Jahre alt. „Aber ich war Jude. Also musste ich gehen.“ Seine Kinderfrau reihte sich mit ihm in den Menschenstrom, der aus der Stadt hinaus zog. Beide ahnten zunächst nichts von der drohenden Gefahr. Doch als sie sich der Schlucht näherten, begannen die SS-Männer, sie mit Stöcken und Gewehrkolben zu schlagen. Panik brach aus. „Ich fiel zu Boden, begann zu bluten und schrie wie am Spieß“, berichtet Michailowski. „Verzweifelt schwenkte mein Kindermädchen seinen Pass. ‚Ich bin Ukrainerin‘, rief sie immer wieder. ‚Wir gehören nicht hier her!‘ Ein Soldat hatte Mitleid und zog uns aus der Menge.“ Alle anderen wurden weitergetrieben, an den Rand der Schlucht. Sie kamen nie wieder zurück. 1,5 Millionen Juden töteten die Nationalsozialisten während ihrer Besatzung in der Ukraine. Auch Roma und Kriegsgefangene wurden systematisch erschossen. Der Feldzug in Richtung Osten war ein Vernichtungskrieg: Ziel war die Gewinnung von „Lebensraum“; die Menschen mussten verschwinden. Bei Kriegsende war jeder fünfte Ukrainer tot. „Wir müssen diese Zahlen mit Leben füllen“, sagt der ukrainische Historiker Boris Zebarko. „Es ist wichtig, von jedem einzelnen Opfer des Holocausts zu berichten.“ In der Ukraine, einer jungen, stolzen Nation, hat die Aufarbeitung dieser Verbrechen gerade erst begonnen. Viel Zeit bleibt nicht: Wassili Michailowski ist einer der letzten Überlebenden von Babyn Jar. Die Deutschen kennen bereits viele Gräueltaten, viele Opfer der Nazizeit – so viele, dass ihr Blick oft nicht bis ans Schwarze Meer reicht. „Dass der Holocaust einen Großteil seiner Opfer in Osteuropa forderte, ist bei uns viel zu wenig bekannt“, sagt Jochen Guckes, Leiter der Jugendbegegnung. „Unser Projekt soll zeigen, wie viele verschiedene Perspektiven es auf die Geschichte gibt, und dass wir uns in Europa gemeinsam erinnern müssen.“ Die 80 Jugendlichen aus ganz Europa haben viel diskutiert: über Nationalismus, Antisemitismus und Erinnerungspolitik. „Die Ukraine war mir immer fremd, ein ferner Teil der früheren Sowjetunion“, sagt Max. „Jetzt weiß ich, wie modern die Leute in Kiew denken und wie aufgeschlossen sie uns gegenüber sind.“ Heute nehmen die Jugendlichen gemeinsam an der Gedenkstunde im Bundestag teil. Deutsche sitzen neben Ukrainern, Franzosen und Polen, wenn sie der Opfer des Nationalsozialismus gedenken. „Ich hoffe, dass die schwarze Hand des Faschismus nie über euch kommt“, hat Wassili Michailowski den Jugendlichen zum Abschied gewünscht. Sie kennen nichts anderes als ein friedliches Europa – und es liegt an ihnen, dass es so bleibt.

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